In der Reihe "Die Überlesenen" stellt Manuela Reichart vergessene oder unbekannte Autorinnen vor, die die Lektüre in jedem Fall lohnen. Heute geht es um eine Autorin, die zu den bedeutenden kanadischen Schriftstellerinnen gehört - neben Alice Munro und Margaret Atwood: Margaret Laurence. Bei uns ist sie immer noch eine Unbekannte.
Ginge es nach dem Willen ihrer berühmten, eine Generation jüngeren Schriftstellerkollegin Margaret Atwood, wäre es Margaret Laurence, die weltberühmt sein müsste. Im Nachwort zu dem Roman "Eine Laune Gottes" schreibt sie, wie beglückt sie beim erneuten Lesen dieses "beinahe vollkommenen Buchs" war, wie viel wir von der Heldin auch heute noch lernen können:
"Wie man seine eigenen menschlichen und notwendigen Grenzen zur Kenntnis nimmt, seine eigene Torheit. Wie man sowohl Nein als auch Ja sagt."
Laurence schreibt über Selbstermächtigung, Freiheit - und über weibliches Begehren
"Eine Laune Gottes", 1966 erschienen, erzählt von selbstquälerischer Unsicherheit, von weiblichem Begehren - und vom Aufbruch. Eine Lehrerin, Anfang 30, lebt mit ihrer alten Mutter in dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist, in einer fiktiven kanadischen Kleinstadt, in der alle fünf Romane von Margaret Laurence spielen.
"Unser Haus steht immer noch inmitten von Fichten, so wie ich es schon ewig in Erinnerung habe. Keine anderen Bäume sind so schützend dunkel, halten neugierige Blicke oder die Sonne im Sommer fern, die Wipfel sind höher als Häuser, die niedrigen Äste hängen schwer auf den Boden wie die grobknochigen grünschwarz gefiederten Flügel ausgestorbener Vögel."
Die Protagonistin führt permanent innere Selbstgespräche, schämt sich für ihr ungelenkes Verhalten, ihre Ängste. Sie ist keine schöne Frau, zu groß, zu knochig. Sie träumt – nein, nicht von der Liebe, sondern ziemlich handfest von sexuellen Begegnungen. In Wirklichkeit hat sie noch nie mit einem Mann geschlafen. Aber das ändert sich in dem Sommer, von dem Margaret Laurence detailreich und mit großem psychologischen Einfühlungsvermögen erzählt: Eine Affäre zwischen einem ganz netten Mann, der sich nur die Zeit vertreibt, und der sehnsüchtigen Frau, die ihre Sinnlichkeit entdeckt, deren Leben sich mit dieser Begegnung ändert - denn nach diesem Sommer wird nichts mehr sein wie es war.
Er ist über alle Berge, hat sich nicht einmal verabschiedet. Sie wird eine Weile leiden und über diesen Liebeskummer nachdenken, ihn geradezu sezieren. Vor allem aber begreifen, dass sie ihr ereignisloses Leben ändern muss, und – sie wird das auch tun.
Ein großartiger Roman über Selbstermächtigung, über Freiheit – und nicht zuletzt über weibliches Begehren.
Das Schreiben eines Romans als eine Art "Entdeckung"
In einem Interview hat Margaret Laurence einmal erzählt, dass das Schreiben eines Romans für sie eine Art Entdeckung sei. Man wisse zwar mehr oder weniger, wohin man wolle, aber man könne beim Schreiben immer überrascht werden, alles könne sich ändern.
Ihre ersten literarischen Schreibversuche machte sie in Afrika. Dort lebte sie ein paar Jahre mit ihrem Ehemann, einem Bauingenieur, den sie mit 21 geheiratet hatte, sie bekam zwei Kinder. Ende der 1950er Jahre kehrte die Familie nach Kanada zurück, 1962 trennte sie sich von ihrem Mann, lebte eine Weile in England, im Sommer in einer einsamen Hütte in den kanadischen Wäldern.
Sie unterrichtete an der Universität, schrieb fünf Romane, Kinderbücher, viele Erzählungen. Im Zentrum stehen oft sogenannte gewöhnliche Menschen, ein Begriff – "ordinary people" - , den sie vehement ablehnte und absurd fand, denn: jeder und jede könne außergewöhnlich sein.
Oft sind es allein stehende Frauen, denen sie literarisch Gerechtigkeit widerfahren lässt oder – in ihrem berühmtesten Roman "Der steinerne Engel" - eine sehr alte Frau, die sich dagegen wehrt, von ihrem Sohn in ein Altersheim abgeschoben zu werden.
Die Autorin hinterlässt ein eindrucksvolles Werk
Margaret Laurence Werk ist wirklich eindrucksvoll. 1987 hat die Autorin sich umgebracht, nach einer Lungenkrebsdiagnose. In einem Interview zwei Jahre vor ihrem Tod sprach sie über die Atombedrohung und darüber, warum Menschen andere Menschen quälen:
"Wenn ich einen Roman schreibe, muss ich versuchen, die Realität meiner Figuren zu spüren: Ich muss sie fühlen wie ich mich selber fühle, ihre Freuden und Schmerzen müssen so real sein wie meine eigenen. Ich glaube, das ist heute ein großes Problem, war es wahrscheinlich immer schon: dass so viele Menschen eine begrenzte Sicht der Wirklichkeit haben. Mit anderen Worten: Andere Menschen sind nicht wirklich wie sie selbst, und diese Sichtweise, die Realität anderer nicht verstehen und fühlen zu können, ist es, die Menschen so verroht, dass sie in der Lage sind, ihre Mitmenschen zu quälen und zu ermorden."
Manuela Reichart, rbbKultur
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