"Ich lebe mein Leben" Vytautas Miškinis | Windsbacher Knabenchor (Martin Lehmann)

Das zeitgenössische Chorwerk "Ich lebe mein Leben" des litauischen Chorleiter und Komponisten Vytautas Miškinis (*1954), eine Auftragskomposition für den Windsbacher Knabenchor anlässlich seines 75-jährigen Bestehens im Jahr 2021, wunderbar aufgeführt von den Windsbachern unter der Leitung von Martin Lehmann. Aufgenommen beim Knabenchorfestival 2022 zum 75. Jubiläum des Windsbacher Knabenchors in St. Sebald Nürnberg am 18. Juni 2022.

Informationen zum Stück:
Für sein Windsbacher Jubiläumsstück kombinierte Miškinis zwei Verse aus Psalm 119 mit Rainer Maria Rilkes berühmtem Gedicht Ich lebe mein Leben. Ist das lyrische Ich des Rilke-Gedichts ein gottsuchender Mensch („Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, / und ich kreise Jahrtausende lang“), so stehen die Verse 103 und 105 des Psalms 119, den Miškinis in lateinischer Sprache vertonte, für das unverbrüchliche Vertrauen in Gott: „Dein Wort ist meinem Munde süßer als Honig.“ (Vers 103); „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.“ (Vers 105).
Die erste und entscheidende Inspiration für die Komposition eines geistlichen Werks sei der Text, auf dem die Komposition basiere, sagt Miškinis. Das Ziel der Komposition bestehe insbesondere darin, „den Text in die Musik übertragen zu haben, vom Wort zum Klang gekommen zu sein“. Die Gegenüberstellung zweier so unterschiedlicher Texte wie Rilkes Gedicht und der Psalm spiegelt sich dementsprechend wider in der Kontrastanlage von Außen- und Mittelteilen des Werks, das detailreich, kleinteilig und polyphon komponiert ist.
Die beiden in sich ruhenden Psalmvers-Vertonungen stehen in der Mitte; modale Harmonik und Stimmführungsparallelen erzeugen einen archaisch-sakralen Ton. Die beiden vierzeiligen Strophen des Rilke-Gedichts, deren Struktur harmonisch beweglicher, emotionaler komponiert ist, bilden den Rahmen. Je zwei Verse des Gedichts ergeben einen Abschnitt.
Der emphatische Höhepunkt des Stücks wird über die komponierte Steigerungskurve des vorletzten Gedichtverses erreicht: „Und ich weiß noch nicht“ wird mehrfach im Imitationsmuster wiederholt, bevor sich die vier Stimmen zusammenfinden in der eindringlichen, als Aufschrei komponierten Frage: „Bin ich ein Falke, ein Sturm …“ — fortissimo mündend in einen G-Dur-Akkord mit Fermate. Erst nach dem Rückgriff auf den Beginn des Stücks — auf das in sich und um F-Dur kreisende „Ich lebe mein Leben“ — erklingt der Schlussvers („… oder ein großer Gesang“): nun im sicheren Hafen eines schlichten, harmonisch geerdeten, homophonen Satzes.
Quelle: "Mehr als Musik" - 75 Jahre Windsbacher Knabenchor

TEXT
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten wohl nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Lucerna pedibus meis verbum tuum, (Dein Wort ist meines Fußes Leuchte)
et lumen semitis meis. (und ein Licht auf meinem Wege.)
Quam dulcia faucibus meis, (Denn süßer ist meinem Rachen dein Wort,)
eloquia tua, super mel ori meo! (wie Honig meinem Munde. )

Ich kreise um Gott, den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht:
bin ich ein Falke, ein Sturm

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Oder ein großer Gesang,
ein großer Gesang, ein großer Gesang.

© CHOR GESANG - Knabenchöre (2024)
mit freundlicher Genehmigung des Windsbacher Knabenchor

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